Schule in Korea 2: Der Unieintrittstest (Suneung – 수능)

Der Suneung ist der schlimmste Albtraum eines jeden koreanischen Schülers und gleichzeitig das Schicksal von über 90% jedes Abschlussjahrgangs. Es handelt sich hierbei um einen nationalen standardisierten Test, der jedes Jahr stattfindet und den Schülern des dritten Jahrgangs an der Oberschule (12. Klasse Deutschland) die Türen zu den Universitäten des Landes öffnen soll. Seit 1994 wurde der Test bisher jedes Jahr am zweiten Donnerstag im November durchgeführt. Das ist jedes Mal 2-3 Wochen vor den schulinternen Abschlussprüfungen (das Schuljahr endet kurz vor Weihnachten), was dazu führt, dass die Schüler und ihre Familien durchgehend im Stress sind. Denn die Ergebnisse dieses Testes entscheiden laut allgemeiner Meinung in der Gesellschaft über die komplette Zukunft des Kindes: nämlich darüber, auf welche Universität es kommt und welche Möglichkeiten diese Universität mit sich bringt. Deswegen befindet sich das ganze Land in der Woche von Suneung auf Alarmbereitschaft und am tatsächlichen Tag des Tests herrscht ein nationaler Ausnahmezustand. Alles beginnt aber natürlich schon viel früher. Man kann nicht früh genug anfangen, die Schüler auf zusätzliche Akademien zu schicken und sie bereits Jahre im voraus auf den Test vorzubereiten. An meiner Schule lief die Woche vor dem Test folgendermaßen ab:

Die Schulglocken werden umgestellt. Das bedeutet, dass sie nicht zu regulären Stundenbeginn- und endzeiten klingeln, sondern im Suneung-Rythmus. Das ist ziemlich verwirrend für Lehrer und Schüler, aber keiner beklagt sich, wenn aus Versehen der Unterricht zu spät anfängt oder zu spät aufhört, weil keiner auf die Zeit geachtet hat. Das gilt allerdings nur für die ersten und zweiten Jahrgänge an den Oberschulen. Die Schüler und Lehrer des dritten Jahrgangs haben keinen regulären Unterricht, sondern freie Zeit zum Selbststudium im Suneung-Rythmus.

Außerdem werden alle Klassenräume plötzlich leer. Alle Fächer der Schüler, wenn sie nicht fest im Klassenraum angebracht sind, werden mitsamt der Inhalte entfernt. Jede Art von Dekoration oder anderen Zetteln und Postern in allen Klassenräumen werden abgehängt. Dieser Aufwand wird betrieben, um alle möglichen Quellen der Ablenkung und des Abguckens zu entfernen. Diese Maßnahme betrifft auch nicht nur die Klassenräume des dritten Jahrgangs, sondern alle Klassenräume. Denn Folgendes passiert an Suneung: Die Schüler machen den Test nicht an ihrer eigenen Schule. Sie gehen an eine andere Schule und machen dort einen Test nach dem anderen bis alle Fächer durch sind. Schüler einer anderen Schule kommen dafür an unsere Schule. So wird ein neutraler Lernort geschaffen – wird mir zumindest erzählt. Die anderen Jahrgänge haben an dem Tag frei, weil alle Klassenräume benötigt werden. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Schüler in einem Klassenraum während des Testes sind, aber zwischen den Tischen muss genug Platz sein, um ein Abschreiben unmöglich zu machen. Weil der Test ein multiple-choice Test ist, wäre das nämlich eigentlich nicht so schwer.

Zusätzlich zu den Veränderungen in der Schule kommt es zu Veränderungen im Wohnheim der Schüler. Dies beginnt mit den Kontroll- und Bettgehzeiten der Drittklässler. Sie haben mehr Anrecht auf die Lernräume als vorher. Auch ist die Musik, mit der wir jeden Morgen geweckt werden anders. Ich weiß nicht, ob die Drittklässler sich den Wechsel gewünscht hatten oder ob die Wohnheimverwaltung es für angemessen gehalten hat, aber die ganze Woche zum Suneung hin, wurden wir mit sanften klassischen Melodien geweckt. Sehr angenehm. Das vereinfacht mir meinen Weiterschlaf. Am Mittwochabend werden außerdem alle Drittklässler nach Hause geschickt, damit sie einen ruhigen Schlaf bei ihren Eltern haben können und das Essen von Zuhause essen können. Die anderen Schüler müssen am Donnerstag morgen vor Beginn des Tests das Gebäude verlassen, um ja keinen Lärm zu machen, sodass es besonders ruhig an dem Donnerstag im Wohnheim war. Ich musste nicht gehen.

Weitere Besonderheiten konnte ich nicht beobachten, abgesehen davon, dass die Drittklässler auch vom Putzdienst befreit waren.

Hier noch eine kleine Info zur Erstellung des Tests, bevor ich von dem diesjährigen Suneung berichte: Der Test selber wird in einem einmonatigen Zeitraum in der Zusammenarbeit von einem Aufgabenerstellungsteam und einem Aufgabenüberprüfungsteam erstellt. Die Aufgaben werden hierbei hauptsächlich von Uniprofessoren und wenigen Oberschulenlehrern erstellt. Überprüft werden die Aufgaben nur von Oberschulenlehrern. Alle, die in die Erstellung des Suneung involviert sind, müssen eine Schweigepflichterklärung von der koreanischen Landesschulbehörde unterzeichnen. Insgesamt sind jedes Jahr beinahe 700 Leute in die Erstellung der Aufgaben irgendwie involviert. Die Leute, die direkt die Aufgaben erstellen und prüfen, werden für den Monat vor Suneung in einem Hotel ‚eingeschlossen‘ und dürfen für den Zeitraum keinen Kontakt nach außen haben. Sie geben ihre Handys und andere technische Geräte ab. Falls es einen Notfall zuhause geben sollte, kann eine dafür eingerichtete Nummer angerufen und somit der betreffende Lehrer erreicht werden. Die involvierten Lehrer wechseln jedes Jahr, sodass keine Schule einen Vorteil erlangen kann.

Abgefragt werden unterschiedliche Fächer, die die Schüler größtenteils wählen können. Alle müssen aber Koreanische Geschichte wählen und bestehen, sonst werden alle anderen Testergebnisse ungültig. Außerdem gibt es natürlich Mathe, Koreanisch, Englisch, Naturwissenschaften, Fremdsprachen und Sozialkunde. Diese ist unterteilt in Ethik, Geografie, Asiatische Geschichte, Weltgeschichte und Politik, von denen die Schüler zwei Fächer wählen müssen. In Naturwissenschaften wählen sie ebenfalls zwei Fächer von Physik, Chemie, Biologie und Erdkunde. Und während alle Schüler Englisch belegen müssen, können sie zusätzlich noch Deutsch, Französischen, Spanisch, Chinesisch, Japanisch, Russisch, Arabisch, Vietnamesisch oder Hanja (koreanische Chinesiche Schrift) wählen. Nach spätestens einem Monat gibt es die Ergebnisse.

Und dann geht das ganze für den nächsten Jahrgang wieder von vorne los. Außer, man gehört zu den 20%, die den Test nicht zu ihrer eigenen Zufriedenheit bestehen und ihn wiederholen wollen. Diese müssen ein Jahr warten und selbstständig oder in speziell dafür angelegten Akademien (gibt es auch als Internat) alles von vorne lernen. Spannend finde ich, dass es extra Begriffe für Wiederholer gibt. Und diese sind auch noch spezifisch unterteilt auf einmalige Wiederholer (재수생),  2-malige Wiederholer (삼수생) und n-te Wiederholer (N수생). Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, wenn diese auch nur geringere Plätze an den Unis bieten: Interviews und schriftliche Bewerbungen.

Aber jetzt zum eigentlichen Prüfungstag:

Vorneweg – das ganze Land nimmt Rücksicht. Alle anderen Dinge scheinen an dem Tag unwichtiger und werden deswegen pausiert oder zeitlich verschoben. Der Arbeitstag beginnt eine Stunde später, aber die öffentlichen Verkehrsmittel fahren öfter – damit auch bloß keiner zu spät kommt. Niemand hat an diesem Tag Handys, Bücher, Zeitungen oder irgendwelche anderen ablenkenden Gegenstände mit in den Klassenräumen. Auch nicht die Lehrer, die den ganzen Tag Aufsicht führen müssen. (Ausländische Muttersprachenlehrer dürfen keine Aufsicht führen und haben frei.) Trotzdem gibt es am Ende immer Beschwerden von irgendwelchen Schülern, die Angst um jeden einzelnen Punkt haben, weil irgendeine Aufsicht erkältet war und sich die Nase putzen musste oder ähnliche Kleinigkeiten passierten. Eine weitere Besonderheit ist, dass während dem 30-minütigen Hörverstehensteil des Englischtestes (welcher gleichzeitig in allen Oberschulen des Landes stattfindet), kein Flugzeug über dem Land niedrig fliegen darf. Was man nicht alles tut…

Und trotzdem kann etwas schief gehen.

Denn dieses Jahr ist etwas passiert, was in der ganzen Geschichte des Suneungs noch nie vorgekommen ist. Am Tag vor dem Test gab es ein Erdbeben der Stärke 5,5 mit dem Zentrum in der Stadt Pohang an der Südküste von Korea. In Pohang hat es einigen Schaden angerichtet, auch in Schulen und auch in anderen Teilen des Landes konnte es gespürt werden. So kam es, dass wir am Mittwochabend gegen 21:30 Uhr – als wir ausländischen Kollegen gerade in einem Lokal waren, weil wir den nächsten Tag frei hatten – die Nachricht bekamen, dass der Suneung verschoben wurde. Der nationale Test, auf den sich die Schüler und ihre Familien und die Lehrer das gesamte letzte Jahr und die vergangene Woche im Speziellen vorbereitet haben, musste wegen des Erdbebens verschoben werden. Das war noch nie passiert! 

Dementsprechend durcheinander ging es weiter. Keine 20 Minuten, nachdem die SMS vom Schuldistrikt an alle Lehrkräfte verschickt wurde, wurden wir von unseren koreanischen Co-Lehrern angerufen und informiert, dass wir am nächsten Tag in die Schule kommen müssten. Was genau passieren würde, wussten sie selber noch nicht, aber wir sollten kommen. Somit war unser Abend beendet.

Und tatsächlich hatte diese Entscheidung eine Lawine ausgelöst. Wir konnten natürlich verstehen, dass besonders für die Schüler in den betroffenen Regionen es schwer wäre, am Donnerstag den Test zu schreiben – besonders weil teilweise Schulen als Prüfungsort ausfallen mussten. Aber weil es ein nationaler Test war, bedeutete es, dass das ganze Land betroffen war. Also hatten alle Schüler, Eltern und Lehrer eine Woche länger Stress – vor allem nervlich. Und für die Oberschulen bedeutete es außerdem, dass alle internen Tests und andere Termine ebenfalls eine Woche nach hinten verschoben werden mussten. So ist die übrige Zeit des Schuljahres unglaublich komprimiert worden und vieles musste umorganisiert oder einfach abgesagt werden.

Heute – eine Woche später als geplant – war Suneung. In meinem Wohnheim war es ab 8 Uhr morgens still. Ich und die Putzfrauen waren alleine. Als ich gegen 13 Uhr das Gebäude verlasse hatte, musste ich feststellen, dass der Hinterausgang des Geländes mit einer Absperrung blockiert war und auch der Haupteingang mit einem Absperrband für Autos abgesperrt war. Das Schulgebäude war still und der Hof verweist. Da ich das Gelände aber verlassen wollte und auch musste (bis halb drei würde ich nicht mehr ins Wohnheim kommen) ging ich einfach unter den Absperrungen durch, auch wenn ich dafür von einigen Leuten, die an der Hauptstraße entlang gingen, komisch angeguckt wurde. Ansonsten verlief der Tag ohne besondere Vorkommnisse. 🙂

suneung

 

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